Die Welt ist aus den Fugen geraten. Wir leben in einer Zeit radikaler Veränderungen, in der das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht funktioniert. Disruptionen, Verwerfungen und Krisen treten nichtmehr nur sporadisch auf, sondern sind zu einer festen Konstante und neuen Norm geworden. Die globale Verflechtung des Waren- und Finanztransfers vergrössert weiterhin wechselseitige Abhängigkeiten und erhöht damit die Komplexität, Unsicherheit und Unübersichtlichkeit der Weltökonomie. Allein in der Finanzwelt traten in weniger als zehn Jahren drei schwere Krisen auf, die sich in kürzester Zeit auf die gesamte Weltwirtschaft ausgewirkt haben. Zugleich spitzt sich der Kosten- und Leistungsdruck für Unternehmen der globalisierten Wirtschaft weiter zu. Kürzere Produktlebenszyklen sowie revolutionäre Technologien und Geschäftsmodelle erfordern immer mehr und immer schnellere Innovationen.
Ganze Branchen und etablierte Weltkonzerne werden in kürzester Zeit in ihren Existenzgrundlagen angegriffen. Entwicklungen im Bereich Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Big Data beschleunigen diese Veränderungen in atemberaubendem Ausmass. Neue digitale Anwendungen haben bereits viele Bereiche des Lebens und der Geschäftswelt grundlegend verändert und tun dies in einer immer grösseren Geschwindigkeit.
Kriege, internationaler Terror, politische Instabilität und Radikalisierung, die unsere Zeit in besonderem Masse prägen, erhöhen die Komplexität und Unvorhersagbarkeit politischer, sozialer und ökonomischer Entwicklungen.
Angesichts der zunehmenden Komplexität und steigenden Veränderungsdynamik werden bis-her erfolgreiche Führungsansätze, Organisationsstrukturen und Ordnungen radikal infrage gestellt. Wie aber können Veränderungen angesichts des permanenten Wandels nachhaltig und erfolgreich gestaltet werden? Wie sieht ein Führungs- undOrganisationsverständnis aus, das Problemlösungen in hochkomplexen Situationen unterstützt undHemmnisse im Hinblick auf persönliches und organisationales Lernen beseitigt?
Die Anwendung der immer gleichen Denkmuster führt zu den immer gleichen Lösungen. Die bisher geltenden Vorstellungen von Führung und Organisation sind so zu einem blinden Fleck beider Suche nach Alternativen geworden. Dies wird durch den Umstand verstärkt, dass der bisherige Erfolg mechanistischer Führungs- und Organisationsansätze weiterhin an ihnen festhalten lässt.
Denn gerade in Zeiten der Unsicherheit wird tendenziell vermehrt auf die Erfolgsrezepte der Vergangenheit zurückgegriffen. Der in Umbruchsituationen dringend benötigte Raum für einexperimentelles Vorgehen und für die Akzeptanz einer hohen Fehler- und Scheiternsquote ist damit nicht gegeben.
Bis heute prägen mechanistische Grundprinzipien wie Kausalität, Linearität, Objektivität, Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit auch die sozialpsychologischen Vorstellungen von Führung undOrganisation. Es ist bekannt, dass die Konstruktionsprinzipien der funktionalen hierarchischen Organisation auf der Vorstellung der Komplexitätsreduktion durch tayloristische Arbeitsteilung und der straffen Steuerung und Kontrolle über pyramidale Managementhierarchien beruhen. Die ökonomische Grundlage und Rechtfertigung solcher Strukturen ergab sich im Zuge der Industrialisierung aus dem Kostenvorteil der Massenherstellung standardisierter Produkte und Dienstleistungen. In einer immer komplexeren und zunehmend digital vernetzten Unternehmenswelt, die durch eine extrem hohe Veränderungsdynamik und starke Schwankungen ihrer Umweltbedingungen gekennzeichnet ist, sinkt der Nutzen dieser Modelle und führt schliesslich dazu, dass Unternehmen, die in Aufbau, Führung und Organisation dem mentalen Abbild von Maschinen entsprechen, nicht mehr hinreichend anpassungsfähig sind.
Die tief verwurzelte Annahme, Einfluss und Kontrolle zielgerichtet und rational durch einzelne Führungskräfte oder Leitungsorgane ausüben zu können, gehört ebenso zu einem mechanistischeFührungs- und Organisationsverständnis wie diuneingeschränkte Anwendung des Ursache-Wirkung-Prinzips. Daraus folgt nicht zuletzt die vorherrschende Logik einer auf die reine Zweckrationalität und quantitative Steigerung von Verfügungsmöglichkeiten ausgerichtete Unternehmensführung. Gemäss dieser Maxime wird der Versuch unternommen, durch Verbesserung und maximale Ausschöpfung der Ressourcenausstattung sowie Optimierung der linearen Managementprozesse die Zusammenarbeit, Innovationsfähigkeit und Produktivität von Individuen, Gruppen und Organisationen zu steigern.
Regelmässig werden dazu breit angelegte Transformationsprojekte aufgesetzt, mit deren Hilfe die strategisch definierten Unternehmensziele im Rahmeneines programmatischen Veränderungsmanagements umgesetzt werden sollen. Aus der ehemals vereinzelt auftretenden Notwendigkeit einer Anpassung der Unternehmenskultur, der Unternehmensstrukturen und -prozesse an externe Entwicklungen und Veränderungen ist heute ein Management des permanenten Wandels geworden. Fast alle Führungskräfte werden sich in ihrem Leben mit der Durchführung von transformativen Veränderungsprojekten auseinandergesetzt haben; sie befinden sich gerade mitten in einem solchen Transformationsprozess oder stehen kurz davor.
Wenngleich zur Lösung der bisher benannten Herausforderung theoretische Modelle wie beispielsweise jenes der lernenden Organisation und Ansätze wie Design Thinking, LEAN, SMART Transformation oder AGILE vorliegen, folgt deren Anwendung und Umsetzung meist dem mechanistischen Führungs- und Organisationsverständnis, auch wenn die Ansätze selbst nicht auf diesem Denken beruhen. Es mag daher nicht verwundern, dass in der Unternehmenspraxis ein Grossteil der strategischen Veränderungs- und Innovationsprogramme scheitert oder einen unerwarteten Verlauf nimmt. In einigen Fällen lassen sich objektiv-sachliche Gründe für das Scheitern der programmatischen Transformationsanstrengungen angeben. Für die meisten gescheiterten Unternehmenstransformationen hingegen müssen andere Ursachen in Betracht gezogen werden, die im Bereich der Implementierbarkeit des Transformationskonzeptes und des darin verankerten Führungsverständnisses zu suchen sind.
Darüber hinaus führen die nicht endenden Transformationsanstrengungen aufgrund permanenter strategischer Anpassungsnotwendigkeiten zunehmend zu individuellen und organisationalen Ermüdungs- und Überforderungserscheinungen. Menschen können den verordneten, pausenlosen Wandel nicht mehr verarbeiten oder gestalten. Entscheidungen, die in den oberstenEtagen der Hauptquartiere getroffen werden, können von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht mehr nachvollzogen werden. Der Aufruf zum Wandel wird indifferent und leer. Die Akteure auf allen Ebenen der Organisation verstummen, gehen in einen blinden Erfüllungsgehorsam über und verschliessen sich voreinander. Überforderung mündet zunehmend in ein Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit. An die Stelle von Gestaltungsspielräumen tritt ein indifferentes Reagieren. Aus einer vitalenOrganisation ist eine Gemeinschaft beziehungsloser Beziehungen geworden. Dabei wirkt die negative Grundstimmung der Organisation selbstverstärkend, indem negative Emotionen wie ein Filter für weitere negative Informationen fungieren, was die schlechte Grundstimmung stabilisiert und weiter verstärkt. Daraus resultieren schliesslich eine immer geringere Selbstwirksamkeitserwartung, Demotivation und Entfremdung. Das heisst, Menschen fühlen sich immer mehr durch ihre äusseren Umstände getrieben und fremdgesteuert. Sie verlieren zunehmend den Glauben daran, selbständig handeln und etwas bewirken zu können. Die Unternehmenswelt wird immer stärker als repulsiv, kalt oder feindlich wahrgenommen, was schliesslich sowohl auf individueller als auch organisationaler Ebene zum Burnout führen kann.
Und mit jeder neuen Transformationswelle, die in den meisten Fällen zusätzlich zu den operativenTätigkeiten orchestriert und umgesetzt werden muss, steigen die Ermüdungstendenzen der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die organisationalen Kosten der jeweiligen Veränderung erhöhen sich, ihr Nutzen gemessen am tatsächlich erreichten Wirkungsgrad reduziert sich. Zugleich aber nimmt der Veränderungs- und Anpassungsdruck weiter zu, da er eine Struktureigenschaft der heutigen ökonomischen Bedingungen darstellt.
Dieser Zustand beschreibt das in vielen Unternehmen derzeit vorherrschende Führungsdilemma. Einerseits stehen in immer kürzeren Abständen grundlegende Veränderungen an – andererseits verfügen Individuen und Organisationen nicht über die notwendigen Kapazitäten, sich in der vorgegebenen Schlagzahl an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Solange jedoch die transformativen Veränderungen zur Stabilisierung von Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung der digitalen Zukunft mit den Mitteln und Organisationsformen des 19. Jahrhunderts angegangen werden, ist ein Ausbrechen aus dem beschriebenen Dilemma undenkbar. Denn ein Teil des Führungsdilemmas besteht darin, dass die heute anzutreffenden Probleme erst durch die Art und Weise unseres Denkens und Wahrnehmens verursacht wurden und sich mithilfe der gleichenDenkansätze, aus denen sie hervorgegangen sind, nicht lösen lassen. Vermeintliche Lösungsansätze auf der Grundlage symptomatischer Interventionen führen oftmals sogar dazu, die Probleme zu vertiefen, anstatt sie zu beseitigen.
Wer daher nach Möglichkeiten sucht, die strukturellen Hemmnisse organisationaler Entwicklung zu überwinden, wird die Mittel dazu nicht in neuen Managementmethoden und -ansätzen finden, die in den bisherigen Referenzrahmen sozialpsychologischer Vorstellungen von Führung und Organisation eingepasst sind oder werden.
Eine grundlegende Führungsaufgabe besteht heute darin, den sich immer weiter steigerndenAnpassungsdruck in konstruktive und kontinuierliche Transformationsprozesse zu übersetzen und dafür die dynamischen Fähigkeiten von Individuen,Gruppen und Organisationen zu entwickeln.
Die Grundlage dieser dynamischen Fähigkeiten soll in Anlehnung an den deutschen Soziologen Hartmut Rosa als Resonanz beschrieben werden. Ein neues Führungsverständnis, das auf dem Konstrukt der Resonanz basiert, wird sich demnach auf die Vermittlung und Förderung von Resonanzfähigkeit in Hinblick auf Individuen, Gruppen und Organisationen fokussieren.
Der aus der Physik entlehnte Begriff Resonanzbedeutet mitklingen oder einschwingen in einem schwingungsfähigen System. Resonanz im übertragenen Sinne ist demnach ein dynamisch interaktives Verhältnis zwischen zwei Akteuren. Es soll im Kontext von Führung und Organisationsentwicklung die wechselseitige Beziehungsqualität auf allen Ebenen der organisationalen Interaktion beschreiben: 1. Im Verhältnis des Individuums zu sich selbst; 2. im Verhältnis der Individuen zueinander (Team oder Gruppe); 3. im Verhältnis der Gruppen zueinander (organisationales Innenverhältnis) und schliesslich 4. im Verhältnis der Organisation zu ihrer Umwelt (organisationales Aussenverhältnis).
Resonanz definiert das Gefühl, das Menschen haben, wenn sie mit sich selbst, mit anderen, mit Objekten oder ihrer Umgebung in einer guten Verbindung oder im Einklang stehen. Es ist ein Gefühl des Lebendig-Seins, Angenommen-Seins und Aufgehoben-Seins. Dieses Gefühl tritt in Situationen auf, in denen sich Menschen anerkannt und als selbstwirksam erleben. In denen sie sich mit anderen verbunden und zugleich als eigenständig erfahren. Dies erfordert die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können und diese wahrzunehmen und selbst mit der eigenen Stimme zu sprechen und wahrgenommen zu werden. Begriffe wie Empathie, das Gefühl von Selbstwirksamkeit oder das des Flow-Erlebens stehen dem der Resonanz sehr nahe. Ein Resonanzerlebnis, das in Deutschland Millionen Menschen geteilt haben, war die Stimmung zur Zeit der Fussballweltmeisterschaft im Jahre 2006. «Auch wenn Deutschland nicht im Finale stand, hat es schon gewonnen, denn es hat die beste WM aller Zeiten ausgerichtet und die Nation in dieser Anstrengung vereint», sagte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan über das Sportereignis, das später nicht unbegründet allgemein als «Sommermärchen» bezeichnet wurde.
Eine neue Qualität der Innovationsfähigkeit, Produktivität und Anpassungsfähigkeit ist zuallererst an die konstitutiven Bedingungen der Qualität der Zusammenarbeit geknüpft. Das heisst, an die Beziehungsqualität der miteinander in Beziehung stehenden Personen oder Gruppen sowie der Selbstwirksamkeitserfahrung der beteiligtenAkteure.
Je besser es gelingt, Resonanzverhältnisse zwischen den Akteuren einer Organisation zu stiften, umso höher ist die Fähigkeit der Organisation, selbstregulierend nach Massgabe ihrer Struktur auf Umweltveränderungen adäquat reagieren zu können. Die Beziehungsqualität, die im mechanistischen Führungsverständnis zum Ausdruck gebracht wird, lässt sich dagegen als zweckbestimmt, instrumentell und nutzenorientiert beschreiben. Der Fokus der Führungsaufgabe besteht wie eingangs erläutert in der Verfügbarmachung von Ressourcen und der Optimierung ihres Einsatzes. Der erzwungenen Steigerungsorientierung mit Mitteln mechanistischer Führungsmodelle blind zu folgen, bringt jedoch notwendig eine Unternehmensführung hervor, die in allen Dimensionen den Menschen als Ressource, Instrument und Gestaltungsobjekt versteht und dadurch die Resonanz- und Veränderungsfähigkeit des Unternehmens systematisch zerstört. Eine nicht oder nur unzureichend resonanzfähige Organisation in einer dynamischen Umwelt ist damit in ihrer Existenz gefährdet. Auch wenn noch keine direkte Gefährdung der Organisation erkennbar ist, operieren die meisten Unternehmen auf einer Stufe zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität und bleiben damit weit hinter ihren Möglichkeiten zurück (siehe Abbildung «Bewertungsdimensionen»).
Eine entscheidende Voraussetzung für die Stiftung und Förderung von Resonanzverhältnissen ist die Schaffung eines emotionalen Schutzraumes, an dem ein Inbeziehung treten der Akteure zu sich selbst und zueinander sowie die Erfahrung von Selbstwirksamkeit gelingen kann. Die psychologischen Bedingungen dieses Raumes sind Sicherheit und Geborgenheit. Fühlen sich Menschen in ihrer Welt aufgehoben und getragen, wird Lernen und Entwicklung sowohl auf individueller als auch organisationaler Ebene ermöglicht. In Verhältnissen, in denen sich Menschen ausgeliefert und hilflos erleben, sind dagegen die Möglichkeiten individueller und organisationaler Transformation erheblich eingeschränkt, wenn nicht gar unmöglich. Primäres Ziel von Führungskräften in Hinblick auf eine resonante Führung ist daher die Etablierung und Erhaltung von starken zwischenmenschlichen Bindungen (Resonanzachsen), welche es den Akteuren ermöglicht, sich in einer antwortenden und entgegenkommenden Unternehmenswelt getragen und sogar geborgen zu fühlen.
Da ein mechanistisches, lineares Führungs- undOrganisationsverständnis und eine daraus abgeleitete Unternehmenspraxis Resonanzverhältnisse stört oder sogar vernichtet, gilt es, diese grundlegend zu hinterfragen und gegebenenfalls durch resonanzförderliche mentale Modelle und Überzeugungen zu ersetzen. Diese Arbeit muss bei denFührungskräften und Managementteams beginnen. Die Bereitschaft der Führungsmannschaft sich und ihr Verhalten zu hinterfragen, entscheidet überErfolg oder Misserfolg jeder transformativen Veränderung.
Doch während sich in Hinblick auf klassische Transformationsanstrengungen die entscheidenden Akteure selbst als Objekt der Veränderung ausnehmen, stehen sie bei der Einführung von Resonanz zunächst im Mittelpunkt der Veränderungsbemühungen. Auf individueller Ebene sowie innerhalb der Managementteams müssen die Bedingungen der eigenen Annahmen und Überzeugungen sowie die daraus abgeleiteten Institutionalisierungen von Denkstrukturen und Gewohnheitshandlungen (mentale Modelle) bewusst gemacht und im Sinne der Förderung von Resonanzfähigkeit positiv gestaltet werden. Dazu gehört es auch, die unbewussten Mechanismen von kognitiven Vorprägungen (Primingeffekten) und Urteilen, die sich hauptsächlich auf Emotionen gründen (Affektheuristiken) oder von Verfügbarkeitsfehlern in Hinblick auf das Treffen von Managemententscheidung transparent zu machen und Praktiken zu entwickeln, um die genannten kognitiven Verzerrungseffekte möglichst auszuschalten.
Bereits die Einführung in das Thema Resonanz und Resonanzfähigkeit führt zu einer Infragestellung eines bisher weit verbreiteten mechanistischen Führungskonzeptes. Resonanz und Resonanzfähigkeit entziehen sich nämlich gänzlich der Verfügbarmachung. Wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind, kann sich Resonanz zwar einstellen, doch lässt sich dies keineswegs notwendig ableiten oder erzwingen. Die Grundannahme, durch gezielte Handlungen eine messbare Wirkung zu erzeugen, die dem mechanistischen Führungsmodell zugrunde liegt, muss in Hinblick auf die Schaffung von Resonanzverhältnissen aufgegeben werden.
Eine weitere Herausforderung zur Einführung desResonanzansatzes besteht darin, dass in den meisten Unternehmen einem streng rationalen Verständnis von Führung gefolgt wird. Bei einer genaueren Betrachtung basiert die Fokussierung auf Rationalität jedoch auf Vereinfachungen und unzutreffenden Grundannahmen des rationalen Schliessens, die mit den tatsächlichen physiologischen und mentalen Prozessen nichts oder nur wenig zu tun haben. Kaum eine bahnbrechende Idee, kaum ein mathematischer Beweis oder logischer Schluss wird im Prozess des Denkens allein durch ein rein rationaldeduktives Beweisverfahren herbeigeführt. Gefühle, Ahnungen und andere emotionale Komponenten spielen hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie die Fähigkeit der logischen Schlussfolgerung.
Resonanzerfahrungen stellen sich ebenfalls nur dann ein, wenn Rationalität und Emotionalität übereinkommen. Sind Entscheidungen und Handlungen zum Beispiel im Kontext einer strategischen Neuausrichtung nur nach Massgabe rationaler Bewertung vorgenommen und kommuniziert, führt dies nicht zur Resonanz.
Aus diesem Grund entfalten noch so starke Visionen oder Zielvorstellungen in Unternehmen keine oder nur geringe Wirkung. In der eindimensionalen Ausrichtung auf die kognitive Ansprache und Wertung entsteht keine gemeinsame Intention, die handlungsweisend wäre. Selbst wenn die neue Vision von allen geteilt wird, nimmt sie sich in der kompletten Ausblendung emotionaler Aspekte die Kraft ihres Wirksamwerdens.
Eine notwendige Voraussetzung zur Einführung des Resonanzmodells stellt die ernste Auseinandersetzung mit mentalen Modellen und der inneren Verfassung unserer Verhaltensgewohnheiten dar, die sich in Wahrnehmungsmustern sowie in sozialen Strukturen manifestieren, stabilisieren und reproduzieren.
Zur Einführung des Resonanzmodells steht von Beginn an die kontinuierliche Arbeit mit mentalen Modellen im Vordergrund. Wie in der Abbildung «Resonanzmodell» schematisch dargestellt, beginnt der Prozess, der sich in iterativen Schleifen vollzieht, mit der Einübung wertfreien Wahrnehmens und einer intensiven Auseinandersetzung mit individuellen mentalen Prägungen. Darauf aufbauend wird die Perspektive anderer und ihrer jeweiligen mentalen Modelle zugänglich gemacht, um ein besseres systemisches Verständnis und damit die Grundlage für eine echte Wir-Kultur zu schaffen, in der Teamerfolg höher gewertet wird als Individualerfolg.
Bei allen Aktivitäten geht es um eine Steigerung der Qualität der jeweiligen Fähigkeiten, nicht um das Durchlaufen eines vorgegebenen Curriculums. Deshalb muss die Stärkung der Resonanzfähigkeit auf allen Ebenen der organisationalen Interaktion als kontinuierliche und permanente Führungsaufgabe verstanden und wahrgenommen werden.
Um die entsprechenden Rahmenbedingungen für Resonanz in einer Organisation zu schaffen, braucht es vor allem Zeit, eine kontinuierliche Reflexion der vorhandenen mentalen Modelle sowie die Veränderung der täglichen Arbeitspraxis. Resonanzverhältnisse können sich nur dort einstellen, wo die dazu notwendigen Bedingungen nicht nur konzeptionell vorhanden, sondern eine daraus abgeleitete Praxis auch tatsächlich gelebt wird. In den meisten Organisationen sind zahlreiche mentale Modelle und unhinterfragte Grundannahmen sowie Arbeitspraktiken nicht resonanzförderlich und müssen daher durch neue mentale Modelle abgelöst und durch Einübung neuer Praktiken überschrieben werden.
Neben den inneren Bedingungen zur Resonanzförderung können auch äussere Bedingungen angegeben werden. Zu diesen Bedingungen gehören die Gestaltung und Einrichtung der Arbeitsräume sowie das Design von Prozessen, Entscheidungsstrukturen, Steuerungselementen und Organisationsmodellen.
In Hinblick auf Organisations- und Entscheidungsstrukturen ist es wichtig, dass diese die Selbstwirksamkeit und den aktiven Austausch aller Akteure fördern. Zuhören und Mit-der-eigenen-Stimme-Sprechen bilden die Grundlage des wechselseitigen Verhältnisses, das als Resonanz bezeichnet wird. Die Möglichkeit hierzu muss auch auf der organisationalen Ebene geschaffen werden. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass die Einführung selbst organisierter Resonanzkreise parallel zur hierarchischen Linienorganisation sehr hilfreich ist, um die funktionsübergreifende Zusammenarbeit und entsprechende Resonanzachsen zu fördern. Zudem fungieren so die einzelnen Resonanzkreise als Nukleus oder Keimzelle der neuenFührungs- und Kollaborationspraxis, was eine flächendeckende Implementierung des Resonanzmodells erleichtert.
Die Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb der Resonanzkreise können je nach Aufgabenstellung und Anforderung auf der Basis hierarchischer, holokratischer oder soziokratischer Modelle erfolgen. Hierin zeigt sich eine weitere Stärke des Resonanzmodells. Andere Managementansätze, wie z.B. LEAN oder AGILE, sind anschlussfähig und lassen sich problemlos in das Model integrieren.
Bevor es an die inhaltliche Ausgestaltung von strategischen Veränderungsmassnahmen geht, fokussiert sich die Führung einer Transformation im Rahmen des Resonanzmodells auf die Schaffung von Resonanzfähigkeit. Das heisst, Strukturen, Prozesse und tägliche Arbeitspraktiken im Rahmen des Transformationsprojektes richten sich konsequent auf die Schaffung und Stärkung von Resonanzachsen der beteiligten Akteure aus. In Hinblick auf die Resonanzfähigkeit der Organisation wird zunächst ein neuer Referenzrahmen entwickelt, der später zur Ausrichtung der transformativen Veränderungsmassnahmen und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung dient. Denn erst auf der Grundlage von Resonanzfähigkeit von Individuen, Gruppen und der Organisation ist eine Veränderung hin zu einer «neuen Qualität der Praxis» möglich (siehe «Resonanzmodell»).
Ein Vergleich zwischen einem klassischen Transformationsansatz und dem Resonanzmodell mach die Unterschiede in Zielsetzung und Vorgehensweise deutlich. Siehe hierzu die Abbildung «Das Resonanzmodell im Vergleich».
Auch wenn im Rahmen transformativer Veränderungsprojekte zunächst die Bereitschaft zur umfassenden Veränderung unterstellt werden kann, beschränken sich die meisten Ansätze ausschliesslich auf eine Transformation mit inhaltlicher Ausrichtung. Das heisst, Vision, Strategie, Prozesse, Strukturen und Technologie werden in einem ganzheitlich orchestrierten Veränderungsprogramm der festgelegten unternehmerischen Zielsetzung angepasst. Eine kritische Reflexion grundlegender Annahmen und mentaler Modelle sowie eine darauf aufbauende Entwicklung eines neuen Referenzrahmens für die inhaltliche Veränderung findet dabei nicht statt.
Hervorzuheben ist in diesem Kontext, dass ein programmatisches Transformationsvorhaben auf die Umsetzung einmalig festgelegter strategischer Ziele durch die Unternehmensleitung ausgerichtet ist und sich mit jeder Strategieänderung wiederholen muss. Das Resonanzmodell zielt dagegen über die Erreichung der konkreten strategischenZiele hinaus auf die Schaffung von Resonanzfähigkeit als Grundlage der selbst organisierten Veränderungsfähigkeit einer Organisation. Das heisst, mit der erfolgreichen Einführung des Resonanzmodells werden ab einem bestimmten Reifegrad der Resonanzfähigkeit Transformationsprojekte gänzlich überflüssig.
Weitere Ideen und Denkanstöße